Jochen Rathmann's Bücher

Dienstag, 21. Februar 2012

[OSCAR COUNTDOWN 2012] Teil 10 - The Tree of Life


 
10/10

Das wunderbare an Filmfestivals ist, dass sie die Geschichte eines Filmes neu schreiben, bevor der Ottonormal – Cineast überhaupt die Chance hat, ihn zu sehen. Als Terrence Malick’s „The Tree of Life” 2011 in Cannes lief, warf der Film große Schatten voraus, die der Zuschauer erst noch ergründen musste.

Der Film erzählt die Geschichte einer amerikanischen Familie im Texas der 50er Jahre. Die Eltern, im Abspann schlicht Mr. & Mrs. O’Brien genannt, und ihre drei Söhne. Während die Mutter einen rücksichtsvollen und respektvollen Umgang mit ihren Kindern pflegt, liegt beim Vater die Härte und Gradlinigkeit eines waschechten Texaners an der Tagesordnung. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Vornamen nicht bekannt sind. Schließlich wäre es in den Augen Mr. O’Briens eine Beleidigung, würde seine Söhne ihn mit seinem Vornamen ansprechen.

Der Film beginnt mit der Nachricht, dass einer der Söhne gestorben ist. Von da an schlägt „The Tree of Life“ einen neuen Weg ein. Im Mittelpunkt steht das Portrait der Familie, Sohn Jack wird dabei ins Zentrum geschoben. Er ist der erste der Brüder, der sich gegen die „Herrschaft“ seines Vaters stellt und eine Beziehung zu seiner Mutter aufbaut, die vermutlich nicht ungewollt an Ödipus erinnert.

Der Film besteht in der Erzählstruktur aus zwei weiteren Elementen. Zum einen lernen wir Jack als erwachsenen Mann in der Gegenwart kennen. Dann gespielt von Sean Penn, hat er immer noch schwer mit der Erinnerung und seinem gegenwärtigen Leben zu kämpfen und driftet in eine Vision ab, in der er der Familie O’Brien der 50er Jahre begegnet. Ebenso gibt es Episoden, in denen die Entstehung der Erde und der Menschheit gezeigt werden. Lava, Wasserfälle, Wüsten, kämpfende Dinosaurier. Eine minutenlange Meditation über das Leben, verpackt in einzigartige Bilder.

Terrence Malick erzählt seine Geschichte nicht nach den üblichen Mustern. Es gibt keine erkennbare Struktur. Man weiß nie, welche Einstellung nach der nächsten kommen kann. Die Kamera ist der Hauptdarsteller, erzählt die Geschichte, ist ständig in Bewegung. Es tauchen immer wieder Einstellungen auf, die man in diesem Schnittmuster nicht erwartet hätte, doch es geht nicht darum von A nach B zu kommen, sondern einen Eindruck zu verschaffen. In jeder Szenen liegt ein bedrohlicher Ton. Was machen die Brüder als nächstes? Ist Mr. O’Brien gut gelaunt und spielt mit seinen Söhnen oder wird er handgreiflich? Wird Mrs. O’Brien jemals das Wort gegen ihn erheben oder bleibt sie in der Gesellschaft stumm, wie es sich eben für Hausfrauen der 50er Jahre gehörte? Der Kamera fährt über den Boden, kommt von oben oder steht auf Entfernung, fängt jeden Gesichtzug, jede Geste ein.

Jessica Chastain ist die größte Offenbarung des Films. Wie ein Engel verzaubert sie jede Einstellung, in der sie zu sehen ist. Sie überzeugt als stumme Mutter, die sich lediglich in Voiceover – Szenen zu Wort meldet. Allgemein gibt es am Cast, gemessen an der anspruchsvollen Aufgabe, nichts auszusetzen.

Jede Szene, jede Einstellung ist für sich genommen ein Meisterwerk, in der Komposition unerreichbar. Man kann sich an den Bildern gar nicht satt sehen. Wie man hört soll Malick an einer sechsstündigen Fassung des Filmes arbeiten. Man kann es sich nur wünschen.


[OSCAR PROGNOSE]

Das Team sei überrascht gewesen, dass man bei der Nominierung überhaupt an „The Tree of Life“ gedacht habe. Hat man den Film gesehen, stellt sich diese Frage überhaupt nicht. Realistisch betrachtet wird der Film aber genau aus diesem Grund keinen Preis gewinnen. Muss er auch nicht. Die besten Filme blieben unprämiert.

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